Jugendgewalt und Prävention im sozialen Brennpunkt. Die Köllnische Heide in Berlin-Neukölln

Projektformat: Forschung

Auftraggeber/Fördergeber: Landeskommission Berlin gegen Gewalt

Projektdurchführende: Dr. Albrecht Lüter

Laufzeit: 19.03.2025 – 19.03.2025

Publikationen

Jugendgewalt und Prävention im sozialen Brennpunkt. Die Köllnische Heide in Berlin-Neukölln Forschungsbericht 2016 in Albrecht Lüter (Hg.)(2016): Die Praxis der Prävention. Berliner Forum Gewaltprävention Nr. 61, S. 75 - 162, Berlin

Projektbeschreibung

Die Region Köllnische Heide befindet sich im Ortsteil Nord-Neukölln, und zwar außerhalb des Berliner S-Bahnrings am Rand des Ortsteils. Unter den 138 Berliner Bezirksregionen ist die Region nach den Analysen des Monitoring Soziale Stadtentwicklung mit den schwierigsten sozialen Rahmenbedingungen in ganz Berlin konfrontiert. Der Anteil der Personen, die arbeitslos sind oder Transfereinkommen beziehen, erreicht hier den Berliner Spitzenwert. Auch der Anteil der unter 15-Jährigen, die Transferbezüge erhalten, wird in keiner anderen Berliner Region übertroffen. Die Region, die wesentlich durch zwei in den 1970er/1980er Jahren im Rahmen des sozialen Wohnungsbaus errichtete Großsiedlungsstrukturen – der High-Deck-Siedlung und der Weißen Siedlung – geprägt wird, ist außerdem in besonderem Maße durch Prozesse der Zuwanderung beeinflusst worden. In den letzten Jahrzehnten ist das Quartier Aufnahmegebiet von Migrationswellen aus unterschiedlichen Weltregionen gewesen und seine Bewohnerschaft hat sich weitgehend verändert. Heute ist sie in besonderem Maße neben türkischstämmigen auch von arabischstämmigen Bewohner/innen geprägt. Die in der Region ansässige und als salafistisch geltende Al Nur-Moschee verfügt über eine überregionale Reichweite, übt aber auch Anziehungskraft auf diese örtlichen Anwohnerkreise aus.

Studiendesign

In der jüngeren Vergangenheit ist in der Region ein Jugendlicher im Gefolge einer Streitigkeit an den Folgen einer Messerverletzung gestorben, was eine intensivierte Auseinandersetzung mit Fragen der Gewaltprävention angeregt hat. Dieser Umstand war auch ein wichtiger Anlass dafür, die gewaltpräventive Arbeit in der Region anschließend an die landesweiten Analysen des Berliner Monitoring Jugendgewaltprävention durch die Arbeitsstelle Jugendgewaltprävention vertiefend zu analysieren. Die vorliegende Studie zielt damit auf eine tiefergehende Darstellung einer genuin sozialraumorientierten Prävention, die von unterschiedlichen Akteuren mit Blick auf eine abgrenzbare Bezirksregion getragen wird. Sie untersucht dabei drei parallele Fragestellungen: 1) Ergänzend zu polizeistatistischen Informationen wird eine Phänomenologie von Jugendgewalt in einer benachteiligten Region erstellt, um deren Ausdrucks- und Erscheinungsformen genauer zu fassen. 2) Die Ansätze zur Jugendgewaltprävention werden, ohne damit die Ebene spezifischer Einzelprojektanalysen berühren zu wollen, dargestellt und systematisiert, um die zentralen Elemente einer guten sozialraumbezogenen Praxis zu identifizieren. 3) Es wird nach den Kooperations- und Vernetzungsmustern der Akteure und Einrichtungen in der Region gefragt, insofern akteursübergreifend koordiniertes Handeln eines der Grundmerkmale sozialraumbezogenen Arbeitens darstellt.

Die Studie kombiniert verschiedene Methoden:

  • Sekundäranalysen von Daten der polizeilichen Statistik zur altersunspezifischen Kriminalitätsbelastung der Region und zur Belastung mit Rohheitsdelikten mit Tatverdächtigen im Alter von 8 bis unter 21 Jahren insgesamt sowie spezifisch mit Tatort Schule,
  • eine standardisierte Anwohnerbefragung (55 Teilnehmer/innen), die im Rahmen eines Kiezfestes durchgeführt wurde, sowie eine Gruppendiskussion mit Jugendlichen,
  • qualitative Leitfadeninterviews zur Gewaltbelastung der Region, zu den Präventionsmaßnahmen der Einrichtungen und den Vernetzungs- und Kooperationsstrukturen in der Region (18 Interviews mit insgesamt 30 Teilnehmer/innen).

Ergebnisse

Erscheinungsformen von Gewalt

Die Daten der polizeilichen Statistik zeigen, dass die Belastung der Region mit Kriminalität allgemein und mit Jugendgewalt im Besonderen deutlich erhöht ist. Sie liegt dennoch unterhalb des angesichts der erschwerten Rahmenbedingungen nach Auskunft der Berliner Monitoring Jugendgewaltdelinquenz zu erwartenden Schätzwerts und entwickelt sich in den letzten Jahren rückläufig. Insbesondere im Vergleich zu anderen Bezirksregionen Neuköllns erweist sich die Köllnische Heide als einer der Brennpunkte von jugendlicher Gewalt – sie zählt im Berliner Vergleich zugleich nicht zu den Spitzenreitern mit einer weit überdurchschnittlichen Belastung. Der im Berliner Rahmen stark ausgeprägten sozialen Benachteiligung korrespondiert allerdings ein sehr hohes Aufkommen von Fällen häuslicher Gewalt und ein ebenfalls sehr hohes Aufkommen an Jugendgewalt mit Tatort Schule. Insbesondere im Blick auf den häuslichen Raum bestätigen die qualitativ befragten Akteure eine weite Verbreitung gewalthaltiger Erziehungsstile bei deren gleichzeitiger Tabuisierung und berichten auch von entwicklungsbedürftigen Erziehungskompetenzen, die teilweise auf komplizierte Flucht- und Migrationsbiographien zurückgeführt werden. Neben oftmals nur schwach formalisierten und über soziale Medien organisierten gewaltaffinen Gruppen- und Cliquenstrukturen ist die Praxis der Einrichtungen insbesondere mit einer niedrigschwelligen, eher alltäglichen Rohheit konfrontiert, die auf Frustrationserfahrungen angesichts eingeschränkter Lebenschancen und gering ausgeprägte Fähigkeiten mancher Jugendlicher zur Impulskontrolle zurückgeht.

Ausrichtung von Prävention

Charakteristisch für die gewaltpräventive Arbeit in der Region ist eine doppelgleisige Strategie der Förderung sozialer Perspektiven und der spezifischen Gewaltprävention. Gewaltprävention und soziale Integration gehen Hand in Hand und bearbeiten die erheblichen Benachteiligungen und Diskriminierungen, denen sich viele Jugendliche ausgesetzt sehen. Eine isolierte Fokussierung auf Gewaltvorfälle wird teilweise sogar ambivalent bewertet, weil sie einer Stigmatisierung und Viktimisierung der Region und der ansässigen Jugendlichen Vorschub leisten kann. Ergänzend zu den umgesetzten Angeboten lassen sich neben den bildungs- und berufsfördernden Angeboten weitergehende Bedarfe insbesondere bezüglich geschlechtsspezifischer Arbeit und der Förderung von Mädchen, der aufsuchenden, mobilen Arbeit und der Beteiligungsförderung angesichts von Radikalisierungs- und Ausgrenzungsprozessen verorten.

Kooperation und Vernetzung

Die gewaltpräventive Arbeit ist integraler Bestandteil der Angebote in der Region, wird aktuell aber nicht im Sinne einer weitergehend konzeptionell begründeten und systematisch verfolgten Gesamtstrategie umgesetzt. Für die Kooperation und Abstimmung der Einrichtungen nehmen neben dem regionalen Dienst des Jugendamts und der Kiez-AG auch die zwei in der Region ansässigen Quartiersmanagements eine Schlüsselrolle ein. Angesichts der überschaubaren Größenordnung des Gebiets lassen sich auch dichte Netzwerke und oftmals von einem hohen informellen Vertrauen und kurzen Wegen profitierende Kooperationsmuster identifizieren. Besonders hervorzuheben sind dabei systematische Ansätze zur Gestaltung der Übergänge zwischen den Kindereinrichtungen und den Grundschulen sowie zwischen den Grundschulen und der weiterführenden Schule. Insbesondere eine intensivierte Einbindung der weiterführenden Schule in die sozialräumlichen Netzwerke könnte diese substantiell weiterentwickeln und zugleich von der Erweiterung des Fördergebiets eines Quartiersmanagements profitieren.

Fazit

Die Akteure in der Region verfügen über ein ausgeprägtes Sensorium für die Bedürfnisse des Sozialraums und seiner Bewohner/innen und haben dichte, oftmals auch informell tätige Netzwerke der anlassbezogenen Unterstützung aufgebaut. Angesichts der besonderen Herausforderungen des Sozialraums arbeiten zwei Quartiersmanagements in der Region, was die Spielräume auch für die Arbeit mit Kindern und Jugendlichen erweitert. Die spezifisch gewaltpräventive Arbeit mit Kindern und Jugendlichen konnte von einer zeitweise besonders intensiven und abgestimmten Arbeit profitieren. Eine daran orientierte strategische Abstimmung der Einrichtungen noch über die anlassbezogene Kooperation hinaus könnte insofern auch zukünftig wichtige Impulse geben. Dabei ist auch die Einbeziehung der Schulen vor Ort von besonderer Bedeutung. Bezogen auf die Gesamtentwicklung der Region zeigt sich zugleich, dass problematische Entwicklungen auch angesichts guter Arbeit vor Ort oftmals durch schwierige soziale Rahmenbedingungen und „äußere“ Einflüsse (Wohnungsbelegungen usw.) verstärkt werden. Maßnahmen der „positiven Diskriminierung“, die den lokalen Akteuren angesichts der schwierigen Rahmenbedingungen auch besondere Unterstützung zukommen lassen, sind erforderlich, um hier wirkungsvoll gegenzusteuern.